William Gibson: "Peripherie"

Wenn die Zeugin eines Mordes 70 Jahre in der Vergangenheit sitzt

Eine ferngesteuerte Drohne mit einer Kamera schwebt in der Luft.
In William Gibsons neuem Krimi beobachtet eine Frau einen Mord durch eine Drohne. Sie will ihn aufklären. © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Von Marcus Richter · 30.08.2016
Es ist mittlerweile mehr als 30 Jahre her, dass William Gibson mit "Neuromancer” die Science Fiction im Allgemeinen und das Genre Cyberpunk im Besonderen maßgeblich prägte. Jetzt erscheint sein aktueller Roman "Peripherie” auf Deutsch.
Allein der erste Satz: "Sie glaubten, dass Flynnes Bruder keine posttraumatische Störung hatte, sondern dass ihn die Haptics manchmal glitchten.” Am Anfang versteht man nichts. Das ist typisch William Gibson, wie man ihn schon aus der "Neuromancer"-Trilogie kennt. Dieser Schriftsteller baut keine Bühne, auf der er dann nach und nach eine Geschichte erzählt. Er nimmt seine Leser und setzt sie direkt und unvermittelt im Leben seiner Protagonisten ab.
In "Peripherie" sind das die ehemalige professionelle Computerspielerin Flynne und der PR-Berater Wilf Netherton. Netherton arbeitet mit einer Künstlerin zusammen, deren Schwester ermordet wird. Diesen Mord beobachtet Flynne durch die Kameraaugen einer Überwachungsdrohne. Eine Aufzeichnung existiert allerdings nicht. Flynne ist also die einzige Zeugin, zusammen mit Netherton arbeitet sie daran, den Mordfall aufzuklären.

In "Peripherie" kann die Zukunft mit der Vergangenheit kommunizieren

Aber natürlich ist "Peripherie" mehr als nur ein Krimi, in den technische Spielzeuge verwickelt sind: Flynne und Netherton leben in getrennten Zeiten, zwischen ihnen liegen 70 Jahre. Die beiden Zeiten sind durch ein ominöses Computersystem miteinander verknüpft: Die Zukunft kann darüber mit der Vergangenheit kommunizieren. Die Besonderheit ist: In dem Moment, in dem die Zukunft die Vergangenheit zum ersten Mal kontaktiert hat, teilt sich die Zeitlinie. Die Vergangenheit wird im weiteren Verlauf zu einer anderen Zukunft, trotzdem bleibt die Kommunikation aufrecht erhalten. So vermeidet Gibson Paradoxien, die normalerweise bei Zeitreise-Geschichten auftreten.
Der einzige Vorteil, den die Zukunft hat, ist also überlegende Technologie. Das einzige Mittel, dass ihr zur Verfügung steht, um die Vergangenheit zu beeinflussen, ist der Informationstransfer in die Vergangenheit. Zum Beispiel wird in der Vergangenheit so der Aktienhandel durch neue Hochfrequenz-Handels-Algorithmen beeinflusst, die Flynne zwar unendlich reich machen, aber auch den gesamten Wirtschaftskreislauf an den Rand des Zusammenbruchs bringen.

Gibson thematisiert vieles von Lobbyismus bis Überwachung

In dieser Art und Weise thematisiert Gibson viele Bereiche, in denen Informationshoheit schon heute Leben und Gesellschaft verändert. Es geht um Lobbyismus, soziale Netzwerke, Überwachung, Aktienmärkte und sogar die manische Lust des Menschen an der Individualisierung seines Selbst. Trotz diesen großen Überthemas schafft es Gibson noch gleichzeitig eine gute, spannende Science-Fiction-Geschichte zu erzählen. Mit glaubwürdigen Charakteren, authentischen Dialogen und technischen Visionen, die als Kulisse einer Verfilmung sicherlich ganz hervorragend geeignet wären.
Einziger Wermutstropfen ist, dass man sich diesen Genuss hart erarbeiten muss. Das erste Viertel des Buches liest sich - wegen der fehlenden Erklärungen und manchmal zu bemühten Referenzen auf aktuelle Marken und Trends - etwas zäh. Aber dann wird "Peripherie” schlagartig besser, alle Gedankenfetzen, Andeutungen und Ereignisse fallen wie ein Puzzle zusammen und ergeben einen typischen, guten Gibson, der Popkultur gekonnt mit gesellschaftlichem Kommentar verbindet.

William Gibson: "Peripherie"
Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Holfelder-von der Tann
Klett-Cotta, Stuttgart 2016
616 Seiten, 24,95 Euro

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