Freitag, 29. März 2024

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Leben ohne Konfession
"Auch Atheisten wollen Werte"

Konfessionslose haben eine "sehr hohe Wertorientierung". Das ist ein erstes Ergebnis einer internationalen Studie. Humanisten und Atheisten wollten "nicht einfach so dahinleben", sagte die Psychologin und Studienleiterin Tatjana Schnell im Dlf. Den meisten gehe es vor allem um eine humanistische und menschenfreundliche Haltung.

Tatjana Schnell im Gespräch mit Andreas Main | 06.09.2017
    Tatjana Schnell im Porträt
    Tatjana Schnell von der Uni Innsbruck: “Wir haben sehr wenige Sinnkrisen bei Konfessionsfreien gefunden." (Wendy A. Hern)
    Andreas Main: Mal ganz grob über den Daumen gepeilt, zwei Drittel der Deutschen gehören einer Kirche an, ein Drittel nicht. Dieses Drittel der Konfessionslosen oder, wie sie sich selbst sehen, der Konfessionsfreien, ist kaum erforscht. Welche Weltanschauung haben sie? Welche wertebezogene Orientierung? Oder einfacher gesagt: Wie tickt ein Atheist? Das wollte eine internationale Forschergruppe in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Dänemark wissen. Sie haben vor einem Jahr mit einer wissenschaftlichen Befragung begonnen. Nun liegen erste Ergebnisse vor. Wobei dazugesagt werden muss, es ist keine repräsentative Umfrage. Dafür reichte das Geld nicht. Aber erste Erkenntnisse gibt es, sagt Tatjana Schnell, die uns nun aus Österreich zugeschaltet ist. Tatjana Schnell leitet die Studie. Sie ist Psychologin und assoziierte Professorin an der Uni Innsbruck. Guten Morgen, Frau Schnell.
    Tatjana Schnell: Guten Morgen.
    Main: Frau Schnell, Kirchenmenschen, besonders katholische argumentieren ja gern, dass eine Gesellschaft ohne Gott die Maßstäbe verliert und erbarmungslos wird. Welche Maßstäbe und Werte haben Atheisten, Agnostiker, Humanisten Ihren Ergebnissen zufolge?
    Schnell: Wie Sie schon gesagt haben, unsere Studie hat zwar eine hohe Rücklaufquote: Wir haben fast 2.000 vollständig ausgefüllte Fragebögen. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass wir dieses Drittel der nicht kirchlich Gebundenen tatsächlich repräsentativ abdecken.
    Die Personen, die an unserer Studie teilgenommen haben, zeichnen sich dadurch aus, dass sie offenbar ein hohes Reflexionsvermögen haben und einen hohen ethischen Anspruch an sich. Also, das sind Menschen, die sich damit auseinandergesetzt haben, sich von der Konfession zu lösen oder nicht dort einzutreten und im Durchschnitt – ich rede jetzt immer von unseren durchschnittlichen Daten – sehr hohe Wertorientierung berichten und generell auch ein hohes humanistisches Interesse, ein Interesse daran, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und nicht einfach so dahinzuleben, sondern das, was auch die Kirche an ethischer Ausrichtung gutheißen würde, das für ihr Leben auch von sich verlangen. Sie möchten Werte umsetzen.
    "Überdurchschnittlich ausgeprägte Wertorientierung"
    Main: Welche Werte sind es und wie hoch sind die Zahlen?
    Schnell: Wir haben eine Menge erfragt. Das war ein sehr langer Fragebogen. Bei der Frage nach der Wertorientierung haben wir gefragt danach, wie wichtig Toleranz im Leben dieser Personen ist, ob sie bereit sind, für soziale Gerechtigkeit auch persönliche Nachteile hinzunehmen, ob sie den achtsamen Umgang mit anderen Menschen pflegen, ob sie Wert darauf legen, freundlich und achtsam miteinander umzugehen.
    Und hier sehen wir, dass die Werte im Durchschnitt deutlich über dem zu erwartenden Mittelwert liegen. Also, die Antworten sind im sehr hohen Bereich. Und die unterschiedlichen Ausrichtungen unterscheiden sich hier auch nicht stark. Wir sehen einen etwas höheren Wert bei Menschen, die sich als Humanisten bezeichnen, im Gegensatz zu Atheisten oder Agnostikern oder Freidenkern. Das ist ein kleiner Effekt, signifikant, weil wir eine große Stichprobe haben. Aber generell sind die Werte sehr hoch in der gesamten Stichprobe.
    "Hohe Lebenszufriedenheit bei Konfessionsfreien"
    Main: "Wer betet, lebt gesünder". Das ist ja auch so ein Satz, der immer mal wieder Schlagzeilen macht. Wie ist es um die Zufriedenheit und die Stimmung Ihrer "Nichtbeter" bestellt, also der befragten Konfessionsfreien? Alle kurz vor dem Suizid?
    Schnell: Nein, ganz und gar nicht. Man muss hier auch korrigieren. Also, es gibt viele Studien zur Gesundheit von religiösen Menschen. Es ist tatsächlich nicht das Beten, das mit Gesundheit einhergeht, sondern der Kirchgang. Was auch interessant ist, denn das hebt offenbar hervor, dass diese Gemeinschaft, das Erleben von Zusammenhalt offenbar etwas mit Gesundheit zu tun hat.
    Das haben wir auch untersucht in unserer Stichprobe und geschaut: Diejenigen, die organisiert sind, die tatsächlich Mitglieder sind in säkularen Organisationen, die ihre Weltanschauung vertreten, leben die besser? Geht es ihnen besser? Wir haben hier keine großen Effekte gefunden.
    Also, offenbar geht die Mitgliedschaft in einer säkularen Organisation mit einer höheren Lebenszufriedenheit einher. Ansonsten können wir aber auch sagen, die Sinnerfüllung unserer Studienteilnehmenden war ebenfalls überdurchschnittlich hoch.
    Das hat uns auch überrascht, denn ich hatte schon vor einigen Jahren eine Studie durchgeführt mit überzeugten Atheisten und Atheistinnen, also nur solchen, die sich als Atheisten bezeichnen. Hier war die Sinnerfüllung niedriger als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Hier sehen wir: Diejenigen, die teilgenommen haben, das sind offenbar Menschen, die im Durchschnitt recht gut wissen, warum sie hier sind, die ihren Weg gefunden haben. Wir haben sehr wenige Sinnkrisen hier gefunden.
    "Atheisten tendieren politisch nach links"
    Main: Sie haben ja auch politische Einstellungen abgefragt. Mit welchem Ergebnis?
    Schnell: Hier sehen wir ganz deutlich, dass die große Mehrheit der Stichprobe nach links lehnt. Also, wir haben ganz wenige, die sich dem rechten Spektrum zuordnen.
    Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft" im Gespräch mit Tatjana Schnell über ihre Studie zu konfessionsfreien Identitäten. Frau Schnell, nur um der Transparenz Willen und nicht, um Ihre Forschungen zu diskreditieren: Es gibt bei Ihnen schon eine größere Nähe zu solchen säkularen Organisationen wie dem Humanistischen Verband als, sagen wir mal, zu den Volkskirchen?
    Schnell: Wir haben ja die säkularen Organisationen im Fokus gehabt. Von daher haben wir uns nicht an die Volkskirchen gewendet. Also, es gibt in dieser Studie keine Präferenz diesbezüglich, dass wir sagen, wir finden das jetzt wichtiger als Kirchen.
    Aber wir haben sehr viel Forschung in der Religionspsychologie zu Menschen, die kirchlich gebunden sind, die religiös uns spirituell sind. Dazu habe ich auch viele Jahre geforscht.
    Was wir aber nicht wissen, ist, was Menschen glauben, die konfessionsfrei sind. Deswegen standen die in dieser Studie im Vordergrund und nicht die Kirchenmitglieder.
    Lange wollte die Psychologie nichts von Religion wissen
    Main: Woran liegt das, dass die Einstellung von konfessionsfreien Menschen bislang kaum erforscht wurde?
    Schnell: Die Psychologie hat hier besonders im deutschsprachigen Raum eine interessante Geschichte. Sie hat sich nämlich zu Beginn ihrer - also, in ihrer Entstehungsgeschichte, da war die Frage nach Religion und Mythos ganz zentral – Wilhelm Wundt und so weiter.
    Aber im Laufe der Entwicklung, dann auch nach dem Neuaufbau, nach dem Nationalsozialismus wurden solche Themen auch im Rahmen der behavioristischen Wende als etwas angesehen, das kein Forschungsgegenstand für die Psychologie sein kann, so etwas wie Religion. Es sei zu esoterisch, zu irrational.
    Es gab immer eine kleine Gruppe von Menschen, die sich weiterhin mit Religion befasst haben, weil sie gesagt haben, wenn Menschen religiös sind, dann ist das etwas, das ihr Denken, ihr Leben, ihr Handeln beeinflusst. Und das ist ja, was Psychologie ausmacht.
    Das war also schon ein besonderer Schritt, der eine Forscherin, einen Forscher an den Rand geführt hat, wenn man sich mit Religion beschäftigt hat. Darüber hinauszugehen und zu fragen, was denn die glauben, die nicht religiös sind, das war überhaupt nicht im Fokus, weil es kein Gewicht hatte als ein eigenes Forschungsthema.
    "Finanzielle Situation der befragten Konfessionslosen durchschnittlich"
    Main: Das Konfessionsfreie, sich tendenziell im linken politischen Spektrum zu Hause fühlen, das haben Sie schon gesagt. Was lässt sich denn über Einkommen, Bildungsstand, Alter, sexuelle Orientierung und Familienstand sagen bei den Befragten? Dann hätten wir ja quasi so etwas wie den oder die typische, prototypische Konfessionsfreie.
    Schnell: Auch das ist wieder schwierig, weil wir ja wahrscheinlich Menschen haben in unserer Stichprobe, die irgendeinen bestimmten Grund hatten, hier teilzunehmen. Das sind Menschen, die eher offen sind für alternative Lebensweisen. Also, wir haben zum Beispiel einen relativ hohen Prozentsatz an Personen, die sagen, ich bin weder Mann noch Frau, sondern andere Gender-Bezeichnungen. Wir haben mehr Homosexuelle und Bisexuelle, als wir sie aus anderen Stichproben kennen. Wir haben diese linke politische Orientierung. Von der finanziellen Situation her haben wir die Selbsteinschätzung der Befragten als durchschnittlich bis etwas überdurchschnittlich.
    "Eine ehrlichere und transparentere Gesellschaft"
    Main: Zum Schluss eine Frage, mit der ich Sie von Ihren Ergebnissen wegführe und verführe, ein wenig zu spekulieren. Wir haben begonnen mit der Werteorientierung Konfessionsfreier. Wie würde sich unsere Gesellschaft verändern, wenn diese Werteorientierung und überhaupt die Einstellungen Konfessionsloser von 100 Prozent der Menschen vertreten würde? Was würde sich ändern?
    Schnell: Wenn wir die verschiedenen Einstellungen dimensional erfassen, dann sehen wir, es ist gar nicht so wichtig, ob jemand sich als Atheistin bezeichnet oder nicht, als Agnostikerin oder nicht.
    Das, was einen Einfluss auf das Wohlbefinden hat zum Beispiel, auf die Gesundheit, auf das Sinnerleben, das ist, wie sehr jemand bereit ist, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und eine humanistische, eine menschenfreundliche Haltung zu leben. Und das ist etwas, was sowohl Menschen, die der Kirche angehören, die religiös sind, als auch offenbar hier die nicht Religiösen für sich beanspruchen können.
    Und das ist etwas, was mir sehr positiv erscheint, dieses "Ich schaue hin, wie ich lebe und es liegt an mir. Ich lebe nicht einfach so, sondern ich versuche authentisch und so zu leben, wie ich es richtig finde." Das sieht man hier herausscheinen.
    Und ich denke, das ist etwas, was generell in unserer Gesellschaft guttun würde, wenn Menschen reflektieren darüber, was sie tun und warum sie es tun. Allerdings kann das nicht garantieren, dass wir dann plötzlich eine vollkommen harmonische oder friedliche Gesellschaft haben, denn wir wissen, Menschen finden sehr unterschiedliche Dinge richtig und wichtig und sinnvoll. Das heißt also, man kann hier eigentlich gar keine inhaltliche Prognose machen, wohin das gehen würde.
    Es würde allerdings bedeuten, es wäre eine ehrlichere und transparentere Gesellschaft, wenn diese Werte sich durchsetzen würden.
    Main: Die Psychologin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck und ihre Studie über "Konfessionsfreie Identitäten". Tatjana Schnell, dass Sie erste Forschungsergebnisse mit uns geteilt haben, dafür vielen Dank.
    Schnell: Gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.